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Global Media Forum: 10 Strategien für den Journalismus 2.0

GlobalMediaForumLogo( switch to the English version )Beim diesjährigen Global Media Forum der Deutschen Welle gibt es am Donnerstag, 4. Juni, als Special Event das Symposium „Re-Inventing Journalism? Journalistic Training in the Social Media Age“. Dort diskutiere ich auf dem Podium u.a. mit Kevin Anderson (Blog Editor des Guardian) und mit Marcus Bösch von der DW.


Beim Call for Papers habe ich auf englisch „10 Journalistic Strategies for Competing in the Web 2.0“ eingereicht, die ich hier auf Deutsch zur Diskussion stellen möchte. Ich freue mich über gute Anregungen für das Symposium in den Kommentaren!

10 Strategien für den Journalismus 2.0

1. Diskussion ermöglichen

Journalismus 1.0 druckt eine fertige Geschichte oder stellt sie ins Netz. Dann dürfen die Leser in einem abgetrennten Bereich – manchmal, aber nicht immer – kommentieren. Der Autor schaltet sich in der Regel nicht in die Diskussion ein, die Redaktion höchstens, um umpassende Kommentare zu löschen. Journalismus 2.0 ist anders: Ein Beitrag ist nicht in dem Moment fertig, wo er veröffentlicht wird. Autoren sind gefordert, mitzudiskutieren. Nutzerkommentare müssen ein gleichwertiger Teil der Veröffentlichung werden, wobei aus einem Zeitpunkt ein Prozess wird. Außerdem müssen die Kommentare raus aus den Ghettos und prominent neben den dazu gehörigen Beiträgen platziert werden.

Die kanadische Zeitung Toronto Globe & Mail entwickelt sich konsequent in diese Richtung. Communities Redakteur Matthew Ingram schreibt dazu in seinem Blog:

Over the next few weeks and months, we will be adding new community features as well, including forums and groups, which will allow you to have a focused discussion around a specific issue, rather than having to do that through comments on a particular news story. In some cases, we may close comments on a story but open a forum where readers can discuss a contentious issue in a more closely moderated environment.

I am also working hard to convince our writers of the benefits of responding to comments, and interacting with readers. I can assure you that we don’t see comments as simply a „ghetto that will drive page views.“ I will say that one of the easiest ways to convince writers that your comments are worth responding to is to say something intelligent (it doesn’t necessarily have to be in agreement).

2. In der Link-Ökonomie müssen journalistische Plattformen öffentlicher Gesprächsstoff sein

Webplattformen von Medienhäusern dürfen sich nicht hinter Bezahlschranken verstecken. Sie müssen sich öffnen, um gefunden zu werden. In der Link-Ökonomie, wie sie der New Yorker Medienprofessor und Autor Jeff Jarvis (”Was würde Google tun?“) beschreibt, sind Medien-Websites um so wertvoller, um so mehr sie mit dem Rest der Onlinewelt vernetzt sind. Isoliert hinter Pay-Walls, hinter denen sie nicht gefunden, nicht verlinkt und nicht weiterempfohlen werden können, verlieren die Inhalte an Wert. Sie sind der öffentlichen Diskussion entzogen. Die New York Times hat das erkannt und hat die Bezahlschranke vor ihrem Angebot ”Times Select“ 2007 wieder aufgehoben. Seitdem ist der Traffic auf der NYT-Website um 40 Prozent gestiegen und die erhöhten Werbeeinnahmen haben die Gebührenverluste mehr als wettgemacht.

Die Bedeutung von Links kann gar nicht überschätzt werden: Das Marktforschungsunternehmen Hitwise hat für Großbritannien analysiert, dass zehn Prozent aller Links von Twitter auf Zeitungswebseiten führen. Da Nutzerzahlen von Twitter in Europa noch gering sind, ist das erst 0,3 Prozent des Gesamttraffics. Links von Facebook auf Verlagsseiten machen in GB aber schon 3,3 Prozent des Traffics aus – doppelt soviel wie von Google. (Mehr dazu bei Techfieber).

timeswidget

3. APIs: Journalismus muss dort sein, wo die Nutzer sind

Der Guardian, die New York Times, National Public Radio (USA) und die BBC ermöglichen ihren Nutzern, Inhalte ”mitzunehmen“ und auf ihren eigenen Webseiten (oder wo auch immer sie wollen) einzubetten, z.B. in Form von Widgets. Die NYT hat im Februar 2009 eine offene Schnittstelle alias API (Application Programming Interface) angekündigt, mit der alle seit 1981 verfügbaren Beitraäge – über 2,8 Millionen (!) – im Web transportabel sind. Und zwar in Gänze, nicht nur als kurze Zitatschnipsel. Die Schnittstelle enthält 28 verschiedene Suchfelder und aktualisiert stündlich frischen Content. Nutzer können so zum Beispiel ihre Facebook-Website oder ihren Blog zum NYT-Newsticker machen.

Für ReadWriteWeb ist das ein entscheidender Schritt:

This is a big deal. A strong press organ with open data is to the rest of the web what basic newspaper delivery was to otherwise remote communities in another period of history. It’s a transformation moment towards interconnectedness and away from isolation. A quality API could throw the doors wide open to a future where „newspapers“ are important again.

What does that mean? It means that sites around the web will be able to add dynamic links to New York Times articles, or excerpts from those articles, to pages on their own sites. The ability to enrich other content with high quality Times supplementary content is a powerful prospect.

4. Journalistische Plattformen sollten multimediale Erzählformen und die Kreativität der Nutzer fördern

GuardianDer Guardian hat die gesamten verfügbaren Daten zum Spesenskandal der britischen Unterhaus-Abgeordneten (Wer hat welche Steuernachlässe in Anspruch genommen? Wer hat sie zurückgezahlt? Wer nicht?) in Tabellenform aufbereitet. Das Erstaunliche daran ist nicht so sehr die ausgezeichnete interaktive Darstellungsform, sondern vielmehr die Offenheit und der kollaborative Charakter des Projekts, der sich in dieser Frage an die Nutzer ausdrückt:

  • Can you do something with this data? Please post us your visualisations and mash-ups below or mail us at datastore@guardian.co.uk

5. Tue, was Du am besten kannst, und verlinke zum Rest

Jahrelang ist Online-Journalisten beigebracht worden, bloß nicht nach draußen zur Konkurrenz zu verlinken. Sie sollten umdenken. Laut Jeff Jarvis gebiert die „Kultur des Verlinkens“ nicht weniger als eine „neue Nachrichtenarchitektur“:

This leads to a new Golden Rule of Links in journalism — link unto others’ good stuff as you would have them link unto your good stuff. This emerges from blogging etiquette but is exactly contrary to the old, competitive ways of news organizations: wasting now-precious resources matching competitors’ stories so you could say you’d done it yourself. That must change.

Journalistische Webseiten sollten sich nach Jarvis’s Leitsatz „Do what you do best and link to the rest“ auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und diese Kompetenzen auch bei den Wettbewerbern anerkennen. Nutzern, denen Mehrwert in Form von guten Links geboten wird, kehren um so lieber zurück.

Blogs mit ihrer liberalen Verlinkungskultur und dem bereitwilligen Anerkennen anderer guter Blogs in der Blogroll können hier als Vorbilder dienen. Doch auch manche Medien erkennen inzwischen, dass ”Link-Karma“ in beide Richtungen wirkt.

Beispiele:

  • ProPublica, eine unabhängige nicht-kommerzielle Redaktion, die seit Juni 2008 Themen des Gemeinwohls investigativ propublicarecherchiert, linkt in ihrer Rubrik ”Breaking on the Web“ nach draußen. ProPublica wird von Paul Steiger, (ex Wall Street Journal und Stephen Engelberg (ex The Oregonian und New York Times) geleitet.
  • Die Washington Post linkt ebenfalls freizügig nach draußen, z.B. in ihren Rubriken „Required Reading“ und ”Staff Picks“.

6. Multimedial denken

Im Jahr 2009 muss eine Journalistenaus- und weiterbildung zwingend medienübergreifend geschehen. Ausbildungsstätten wie die Axel Springer Akademie gehen hier beispielhaft voran. Doch davon profitieren nur die wenigsten Journalisten. Vor allem Freie müssen sich mittlerweile auch mit 40 oder 50 Jahren in Eigenregie für sie eventuell ganz neue Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, um nicht in einigen Jahren von Aufträgen ausgeschlossen zu bleiben. Printjournalisten müssen lernen, Verlinkungen mit zu denken, Radiojournalisten müssen auch Bilder liefern können und Fotografen müssen auch mit der Videokamera umgehen können.

nytWirklich attraktiver und preiswürdiger Webcontent zeichnet sich oft dadurch aus, dass hier ein Verlag die Printgrenzen überwunden und multimediale Darstellung nicht bloß als zusätzliches schmückendes Beiwerk benutzt, sondern in Qualität investiert.

In diesem Zusammenhang noch einmal drei beispielhaft erstklassige US-Projekte:

7. Die Weisheit der Masse nutzen

Medien und Bildungseinrichtungen sollten nicht nur professionelle Journalisten im Umgang mit Social Media Tools von Blogs bis Twitter schulen, sondern auch Social Media Nutzer, welche diese Techniken schon wie im Schlaf beherrschen, und Interesse an eine Kooperation haben, im Umgang mit journalistischen Gepflogenheiten von A wie Archiv bis Z wie Zitieren. Profi- und Amateur- oder Bürgerjournalisten müssen sich beim ”Crowdsourcing“ (die Weisheit der Masse anzapfen) nicht als Konkurrenten begreifen, sondern können konstruktiv zusammenarbeiten. Journalisten haben in dieser Konstellation vor allem die Aufgabe, Dialoge zu moderieren und Recherchen zu begleiten.

Kollaborativer Journalismus per Crowdsourcing hat ein riesiges, bisher noch weitgehend ungenutztes Potenzial. Laut eMarketer haben allein in den USA mehr als 82 Millionen Menschen eigene Inhalte ins Netz gestellt, davon 21 Millionen auf Blogs – und sind somit im weitesten Sinne als Medienschaffende zu bezeichnen. Bis 2013 soll ihre Zahl auf 115 Millionen anwachsen.

Beispiele für die Nutzung von Crowdsourcing:

  • Help Me Investigate (im privaten Beta-Stadium) ist eine britische Plattform für investigatives Crowdsourcing. Die Rechercheanstösse kommen von Nutzern, die über die Plattform Gleichgesinnte für eine Recherche finden können, z.B: „Wieviel Geld verdient mein Krankenhaus mit Parkgebühren?“ Die Mittel stammen teilweise aus dem digitalen Innovationsprojekt 4ip des Privatsenders Channel 4. Weitere Infos beim Online Journalism Blog
  • Chicago Now (frühes Beta-Stadium) aggregiert Recherchen und Stories von Journalisten, Bloggern und engagierten Bürgern und vergleicht sich selbst in einem Promotion-Video mit einer ”Mischung aus Huffington Post und Facebook für Chicago. Dahinter steckt die Chicago Tribune.
  • Buzzriders.com ist ein lokales Nachrichtenprojekt des Bloggers Robert Basic (ehemals Basic Thinking). Basic nennt das Projekt „eine Mischung aus Twitter, Blogs, Craigslist und Social Networks“, bei dem die Nutzer ebenso das Sagen haben sollen wie professionelle Jounrnalisten. Momentan befindet sich der Initiator auf Einführungstour, um das Projekt interessierten Gemeinden und lokale Gruppierungen vorzustellen. Nähere Infos im Interview mit Yeebase.
  • MyHeimat.de Ein kollaboratives lokal Nachrichtenprojekt, das vor allem in kleineren Städten aktiv ist. Manchmal etwas PR-lastig. Partnerpubikationen sind unter anderem die Augsburger Allgemeine, Hannoversche Allgemeine, Neue Presse und die Oberhessische Presse.

8. Hyperlokal denken

Crowdsourcing bietet die Chance, Journalismus auf kleinste lokale Einheiten herunterzubrechen und somit über das zu berichten, was die Nutzer in ihren Stadtvierteln oder Dörfern interessiert.

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Beispiele:

  • Are you being gouged? Der Yorker Radiosender WNYC (public radio) rief im Oktober 2007 in einem von mehreren interaktiven ”crowdsourcing experiments“ seine Hörer dazu auf, den Preis für eine Tüte Milch, ein Sixpack Bier und einen Salat in ihrem Laden um die Ecke zu ermitteln und kam so innerhalb von 24 Stunden auf 800 Einträge für eine interaktive Preisübersicht als Karte – ein Rechercheaufwand, den die Handvoll Journalisten des Senders niemals hätten leisten können, 800 interessierte Bürger aber ohne weiteres.
  • Everyblock – ein Projekt finanziert von der Knight Foundation
  • Placeblogger – eine lokale Blog-Aggregations-Site.
  • Redaktion im Internetcafé – ein tschechisches Projekt auf lokaler Ebene, bei dem jeweils eine Redaktion im Hinterzimmer von Internetcafés arbeitet, was den freien Austausch zwischen Journalisten und Bürger ermöglicht. Das Projekt wir von der Inverstmentgruppe PPF finanziert. Details in der NYT.

9. Spendenfinanzierten Journalismus ermöglichen

SpotusWer bezahlt, sucht auch die Themen aus. Bei Spot.Us , einem Projekt des erst 27 Jahre alten Journalisten David Cohn in San Francisco, bestimmen die Nutzer mit ihren Spenden, für welche Themen und Recherchen sie bereit sind zu zahlen. Erst wenn eine Recherche finanziert ist, ziehen die Reporter los. Wenn klassische Medien die Geschichten anschließend kaufen, bekommen die Finanziers ihr Geld zurück. Cohns Projekt wird derzeit durch ein Stipendium der Knight Foundation finanziert. 23 Geschichten wurden in den ersten sechs Monaten finanziert. Cohn arbeitet eng mit der New Yorker Medienprofessor Jay Rosen und dessen NewAssignment.Net für kollaborativen Journalismus von Profis und Bürgern zusammen. Videointerview Cohn beim DW-Ausbildungblog lab.

10. Neue Technologien umarmen

Jede Tage werden neue Tools und Techniken erfunden, die den Journalismus 2.0 erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Gerade deutsche Journalisten nutzen sie aber oft nur zögerlich und mit großer Zeitverzögerung.

Beispiele:

  • Online-Recherchen gemeinsam betreiben mit Wikis und netzbasierten Lesezeichen (delicio.us, MisterWong und Co.)
  • Mobile Reporting: Mit dem Handy Videos vor für Live-Berichte direkt auf die Website streamen
  • Video-Interviews mit einfachsten Mitteln in guter Webqualität (Flip-Kamera). Bild verkauft sogar gebrandete Flip-Kameras an seine Leserreporter – inklusive vorinstallierter Upload-Funktion zu Bild.de
  • Google Wave kann neue Maßstäbe beim kollaborativen Arbeiten an journalistischen Projekten setzen. Zum Beispiel könnenGooglewave mehrere Autoren gleichzeitig an Texten und Notizen schreiben. Die ersten Rezensionen habe ich meinen Linktipps zum Wochenstart verlinkt.